Wie die Brille der Vergangenheit uns in der Gegenwart Schnippchen schlägt
Und was unsympathische Menschen mit uns selbst zu tun haben (können)
Kennen Sie das? Sie lernen jemanden kennen und können sofort mit Sicherheit sagen: mit dieser Person möchte ich keinen Kaffee trinken – geschweige denn sie einstellen oder mit ihr zusammenarbeiten. Das liegt sehr wahrscheinlich daran, dass dieser Mensch einfach überhaupt nicht zu Ihnen passt. Vielleicht verbirgt sich dahinter aber auch etwas ganz anderes…
Vor einiger Zeit saß ein Unternehmer – nennen wir ihn Herrn T. – mir gegenüber, um der Unzufriedenheit auf den Grund zu gehen, die ihn trotz gut laufender Geschäfte belastete. Diese, so kann ich vorwegnehmen, hatte keinen besonderen Ursprung, sondern entstammte vielmehr einer Kombination verschiedener Aspekte. Nach und nach deckten wir sie gemeinsam auf, um sie zu entschlüsseln und meinem Klienten seinen Umgang damit bewusst zu machen.
Heute begannen wir wie auch in einigen der vorhergegangenen Gespräche damit, dass er mir aus seinem Alltag der letzten Woche erzählte: Situationen, die gut waren und solche, in denen er sich unzufrieden, unwohl oder ungeduldig gefühlt hatte.
Ganz am Rande bemerkte er, dass ein relativ neuer Mitarbeiter zwar sehr gute Arbeit leiste, er mit ihm menschlich jedoch keine gute Ebene fand. Der Mann störe ihn einfach in seiner Art und Weise – er könne den Finger nicht genau darauflegen, aber irgendetwas sei unstimmig.
Das ließ mich aufhorchen. Denn solche Begegnungen kennen wir alle. Wir treffen regelmäßig auf Personen, die wir sprichwörtlich nicht gut riechen können, die nicht auf der gleichen Wellenlänge sind wie wir und bei denen wir froh sind, wenn sie eben nicht in unserer Nähe sind. Und meistens, ich möchte gar sagen immer, verbirgt sich dahinter eine Geschichte.
Die Ursachen dafür reichen von banalen Kleinigkeiten, wie tatsächlich einem vertrauten und irgendwo negativ abgespeicherten Geruch, über verbundene Erinnerungen bis hin zum Spiegelbildgesetz.
Während mein Klient und ich dem Unwohlgefühl in Anwesenheit des Mitarbeiters einen Raum gaben, sich zu zeigen und zu ergründen, kamen wir der Lösung immer näher: Es stellte sich heraus, dass besagter Mitarbeiter in einigen Verhaltenszügen dem Onkel von Herrn T. sehr ähnelt. Darauf stießen wir, indem wir unter anderem die Gefühle genauer benannten und analysierten, die Herr T. in Gegenwart des Mitarbeiters verspürte. Diese Kombination von Emotionen nahmen wir mit auf eine Reise in seine Vergangenheit und prüften verschiedene Menschen und Situationen darauf, ob sie auch diese Emotionen auslösten.
Mit dem Onkel hatten wir nun die Person gefunden, deren Verhalten das eigentliche Unwohlsein in Herrn T. hervorgerufen hatte – und damit wohl nun noch immer eine Situation wie diese auslösen konnte. Es ging also überhaupt nicht um den Mitarbeiter, sondern um früher gespeicherte Verknüpfungen zwischen einer ganz anderen Person und damit einhergehenden Gefühlen. Dies zu erkennen war der erste Schritt in unserer Arbeit und der erste grundlegende Meilenstein.
Es ist nicht immer einfach, unserer Zu- oder Abneigung einen Grund zuzuordnen. Doch zwei Dinge sind mir in meiner Arbeit vollkommen klar:
- Neue Situationen bewerten wir nie als vollkommen neu, sondern vor dem Hintergrund des schon Erlebten. Wir sehen alles durch die Brille der Vergangenheit, fragen uns unbewusst „kenne ich das schon?“ und projizieren Erlebtes wie Gelerntes in die Gegenwart. Diese Funktion unserer Menschlichkeit ist keineswegs schlecht, hilft sie uns doch, unser Verhalten zu verbessern und aus früheren Fehlern zu lernen. Nur steht sie uns manchmal im Wege und weist uns in eine Richtung, die wir in einer Neubewertung des Ganzen vielleicht anders einschlagen würden.
- Unser Gehirn sendet nur selten bestimmte Erinnerungen in unser Bewusstsein, viel häufiger dagegen die mit einer Erinnerung verbundenen Emotionen. Deshalb können wir diese Emotionen nicht immer sofort zuordnen – und tun es dann doch, indem wir nach schlüssigen Erklärungen suchen, die uns auf die Gegenwart verweisen. Herr T. erklärte sich, dass sein Mitarbeiter ihm durch vereinzelte Fehler, durch einen bestimmten Blick oder seine nasale Art zu sprechen unsympathisch sei. Wäre er dieser Sache nicht auf den Grund gegangen, hätte er an seiner Sicht nichts geändert und er hätte immer weitere vermeintliche Ursachen für seine Abneigung gefunden. Außerdem hätte er weder sich selbst noch seinem Mitarbeiter die Chance auf einen entspannten Umgang miteinander gegeben.
Eine weitere Schwierigkeit, die uns auf dem Weg von aktuell Erlebtem zurück zu damit verbundenen Erinnerungen begegnet, ist das Erwachsensein. Oft sind es Geschehnisse in unserer Kindheit oder Jugend, die zu gegenwärtig aufkommenden Emotionen beitragen. Diese haben wir aber damals ganz anders empfunden, sodass ein direkter Vergleich der Gefühle nicht unbedingt funktioniert. Um die Brücke dennoch schlagen zu können, nutze ich in meiner Arbeit je nach den individuellen Umständen verschiedene Methoden.
Trotz allem sollten wir uns von nun an nicht in jeder Situation fragen, mit welchen vergangenen Erlebnissen wir die Gegenwart nun wieder unbewusst verbinden. Es gibt schließlich auch angenehme Emotionen, die uns beispielsweise überkommen, wenn wir den Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen wahrnehmen.
Wenn Sie aber nun auf Menschen, Gerüche, Geschmäcker oder Geräusche achten und bemerken, dass diese Ihnen unerklärlicherweise Unbehagen bereiten – dann freue ich mich, wenn sie diesen auf den Grund gehen möchten. Denn wo wir uns heute noch selbst einschränken, können wir morgen frei und selbstbestimmt entscheiden, uns von der Vergangenheit zu distanzieren und Neues neu zu erleben. Genau diese bewusste Handlungsfähigkeit meiner Klientinnen und Klienten bereitet mir immer wieder große Freude an meinem Beruf.