Fehlerkultur

Wenn die Bewertung von Fehlern zu falschen Entscheidungen führt Und wie eine Neubewertung von Fehlern ungeahnte Möglichkeiten mit sich bringt

Fehler begleiten uns alle sowohl privat als auch beruflich. Doch haben sie im Beruflichen nichts zu suchen – denn wir wollen und sollen unsere Arbeit ja tadellos verrichten, um der entsprechenden Entlohnung gerecht zu werden. Oder?

UnternehmerInnen sollten laut Ratgebern regelmäßig in der Belegschaft aussortieren und die Unterperformer (low performer) gehen lassen, während die Überperformer (high performer) gefördert werden. Fehlerquoten helfen dabei ungemein, denn sie zeigen ganz klar, wer scheinbar nicht gut genug ist.

Doch wie können wir durch eine neue Sicht auf diese Situationen nicht nur lernen, sondern uns auch weiterentwickeln? Wie können wir vielleicht eine neue Fehlerkultur etablieren?

Sind es nicht auch die vermeintlichen Fehler, die die Menschheit weitergebracht haben – und auch im kleinen Rahmen Chancen bieten, wenn wir sie richtig betrachten?

  1. Aus meiner Praxis

Meist erreichen mich die späteren Beratungsaufträge in den alltäglichsten Situationen. Dieses Mal saß vor mir ein Unternehmer, über dessen Dienstleistung ich mich für meinen privaten Bedarf beraten ließ. Wir kamen darüber hinaus ins Gespräch und er berichtete mir von seinem Unternehmensweg, der beeindruckend und wie bei nahezu allen unternehmerischen Lebensläufen auch mit großen Herausforderungen und schwierigen Entscheidungen verbunden war. Auch jetzt stand Herr X vor einer solchen Entscheidung: einer seiner Mitarbeiter, so erzählte er, mache trotz mittlerweile mehrjähriger Betriebszugehörigkeit zu viele Fehler in seiner alltäglichen Arbeit. Es fiele ihm sehr schwer, doch sehe er sich nicht in der Lage, diese Fehlerquote weiter hinzunehmen. Es gehe ja schließlich auch um den Erfolg seines Unternehmens – und wir wissen alle: die Spreu muss vom Weizen getrennt werden.

Mich interessiert in einer solchen Situation, woher diese Fehleranfälligkeit kommt und wie sie aufgelöst werden kann. Also bot ich Herrn X an, dem Problem auf den Grund zu gehen. Selbstverständlich ist auch das ein wenig herausfordernd: einfach ins Unternehmen zu spazieren, Herrn Y anzusprechen und zu einem Coaching zu bitten, würde die – sicherlich hinter den Fehlern stehende – Unsicherheit noch befeuern.
So entschieden wir, dass ich als Unternehmenscoach vorgestellt und mit allen Mitarbeitern sprechen würde. Herr X erklärte seinem Team, dass er sehr stolz auf seine Mitarbeiter sei und sie daher gerne mit in die Weiterentwicklung des Unternehmens einbeziehen wolle.

In meinem zweistündigen Gespräch mit Herrn Y sagte er mit enthusiastischem Nachdruck „Herr X ist ein wirklich toller Chef. Er macht sehr viel für uns Mitarbeiter. Das möchte ich ihm mit meiner Arbeit gerne zurückgeben. Er soll unbedingt zufrieden sein mit meiner Arbeit.“

Hier ist der erste Ansatz: die empfundene Dankbarkeit führt zu dem extremen Wunsch, Herrn X durch besonders perfekte Arbeit zu überzeugen. Heißt im Umkehrschluss: Bloß keine Fehler machen!

Ich wusste nun, dass sein Drang sich zu beweisen und seine negative Einstellung zu Fehlern zu ebendiesen führten. Natürlich spreche ich während meiner Coaching-Sitzungen auch die jeweiligen Ursprünge solcher Denkstrukturen an. Oft rühren diese aus Kindheits- und Jugenderlebnissen – doch darauf muss ich gar nicht immer eingehen. Auch hier ging es um einige Situationen in der Schule, die Herrn Y in seiner Einstellung zu Fehlern geprägt haben. Statt diese näher zu beleuchten, arbeitete ich wie oben beschrieben mit Herrn Y an seiner heutigen Betrachtung von Fehlern als Erwachsener. Und doch ist es zunächst wichtig, den Ursprung zu verstehen.

 

  1. Die Fehlergesellschaft – ich bin schlecht, weil ich Fehler mache
    Aus unserer Gesellschaft sind einige Dinge als grundlegende Wahrheiten in uns manifestiert: Wenn ich Fehler mache, bin ich ein schlechterer Mensch. Ich bin dann kein relevanter, anerkannter Teil mehr der Gruppe – was evolutionär zum einsamen Tod durch Ausgrenzung führt. Alleine kann der Mensch nicht überleben. Um nicht alleine zu sein, muss er etwas zur Gruppe beitragen.

In der Schule ist das Fehlerkonzept ganz simpel: Keine Fehler bedeuten gute Noten, viele Fehler wiederum schlechte Noten bis hin zum „Sitzenbleiben“ – dem Ausschluss aus der Gruppe.

So belastet uns also der Gedanke, keine Fehler machen zu dürfen – ebenso, wie Herrn Y. Seine Gedanken kreisen also bewusst oder unbewusst ständig um potentielle Fehler und den Wunsch, diese nicht zu begehen. Er möchte zeigen, dass er sich in dem Unternehmen, dieser Gruppe, wohlfühlt und einen Beitrag leisten kann.

Diese negative Betrachtung der Fehler nimmt viel Raum ein. Stellen wir uns einmal ein Flaschengefäß vor, dessen Bauch all unser Wissen und unsere Fähigkeiten enthält. Diese gelangen durch den Flaschenhals nach außen. Wenn der Flaschenhals jedoch mit Angst vor Versagen und dem ständigen Blick auf mögliche Gefahren blockiert ist, dann findet nur ein Teil des Wissens den Weg nach außen und in unser Verhalten.

Was können wir nun also tun, um den Flaschenhals wieder freizubekommen?
Dafür möchte ich eine alternative Betrachtungsweise von Fehlern ermöglichen:

  1. Die drei A´s für einen neuen Umgang mit Fehlern: Akzeptieren, Analysieren & Abhaken

Eddison: Ich habe 9.999 Möglichkeiten gefunden, die Glühbirne nicht zu erfinden. – Positives Scheitern.

Ein geschehenes Malheur ist unumkehrbar. Die Milch schüttet sich nicht vom Boden zurück ins Glas, der viel zu niedrig kalkulierte Preis lässt sich leider auch nicht aus dem Gedächtnis des Kunden löschen. Geschehenes zu akzeptieren ist also der erste Schritt. So vermeiden wir es, in eine Schockstarre zu fallen und uns in die emotionale Abwärtsspirale fallen zu lassen.

Dabei sollte man es jedoch nicht belassen – weitermachen wie zuvor würde bedeuten, die nächsten Fehler schon einzuplanen. Eine Analyse der Fehlerquelle und vorbeugende Maßnahmen können hier für die persönliche Weiterentwicklung sorgen. Was brauche ich, um beim nächsten Mal konzentrierter, sicherer oder besser vorbereitet zu sein?

Und zu guter Letzt: Abhaken. Die Situation ist geschehen, das zugrundeliegende Problem gelöst und zukünftig wird es besser laufen.

  1. Die Neubetrachtung: Fehler = Weiterentwicklung = Fortschritt = Verbesserung

Es steckt schon im Wort: Wo ein Fehler gemacht wird, fehlt etwas. Und wo etwas fehlt, ist Raum für – ja, für was? Für Ergänzung, Erweiterung, eine tiefergehende Betrachtung des Problems und daraus resultierende Weiterentwicklung.

Kurz gesagt: Ich kann zukünftig etwas besser machen. Es eröffnet sich mindestens die Möglichkeit der Verbesserung, gegebenenfalls sogar der Erschließung neuer Wege.

Es gibt viele Beispiele erfolgreicher Fehler:

Die „Erfindung ohne Nutzen“ eines Klebstoffes, der keine Spuren hinterlässt, ist zu einem der erfolgreichsten Produkte geworden. Oder können Sie sich Ihren Arbeitsplatz ohne Post-it-Zettel vorstellen?

Und Kolumbus hat durch einen Fehler bei der Berechnung der Distanz zwischen Spanien nach Indien gleich einen ganzen Kontinent entdeckt.

 

  1. Geteilte Fehler sorgen für Optimierung

Wo ein Fehler geschieht, geschieht er vielleicht wieder. Zumindest dann, wenn er nicht beachtet wird. Es gibt beispielsweise Unternehmen, in deren Fehlerkultur der gesunde Umgang mit Fehlern als Weiterentwicklungsmöglichkeit gefördert wird. So werden Fehler der Mitarbeiter dokumentiert und teils sogar mit Prämien belohnt. Das führt dazu, dass über Fehlerquellen gesprochen wird, gemeinsam Lösungen gefunden werden und auf diese Weise Fortschritt im Unternehmens angeregt wird. Zusätzlich entsteht so eine positive Einstellung zu Fehlern bei den Mitarbeitern: Sie empfinden weniger Angst davor, diese zu begehen, sondern sehen sie als Möglichkeit der Verbesserung an. Statt sich also bloßgestellt zu fühlen und abgewertet zu werden, ist es dort wichtiger Bestandteil der Gruppe, sich gemeinsam mit Lösungen zu beschäftigen und Fehler als eine wichtige Chance dafür zu sehen.

Gehen wir noch einmal zurück in das Gespräch mit Herrn Y: In seinem individuellen Prozess manifestierte sich eine neue Betrachtungsweise. Er nahm sich vor, Fehler als Chancen zu sehen, mit seinen KollegInnen und seinem Chef über solche zu sprechen und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Er freute sich fast schon auf die neuen Möglichkeiten.

Als mich Herr X kürzlich anrief sprachen wir noch einmal über diese Situation von vor einigen Jahren. Herr Y ist weiterhin im Unternehmen beschäftigt und hat sich zu einem wichtigen Mitarbeiter für Herrn X entwickelt.

 

Fehler und Freude – eine gewinnbringende Verbindung

Als nächstes fragte ich ihn: „was bereitet dir richtig viel Freude?“ Damit meine ich beispielsweise Freizeitbeschäftigungen, bei denen das beschwingte Gefühl von Leichtigkeit vorherrscht. Für Herrn Y war die Antwort sofort klar. „Wenn ich Tennis spiele.“

Ich bat ihn, sich nun vorzustellen, wie er ebendiese Beschwingtheit, die er auf dem Platz erlebt, an seinem Arbeitsplatz erlebt. Unvorstellbar, nicht wahr? Eben nicht. Herr Y lächelte bei den Worten: „Das wäre was!“.

Wie die Freude an der Arbeit neu entdeckt werden kann, beschreibe ich in einem weiteren Beitrag. Nur dies möchte ich vorab verraten: Das Gefäß von vorhin ist auch hier wieder ein gutes Sinnbild. Denn Freude führt zu dem berühmten Flow-Gefühl, einer Leichtigkeit, die uns in unserem Tun motiviert und den Weg durch den Flaschenhals frei macht für all das, was in uns steckt.