Wie der Wille, gut zu sein, uns in einen nicht endenden Strudel des Perfektionismus bringen kann – Und wie wir diesen nicht nur stoppen, sondern nutzen können
Eines haben die allermeisten Menschen gemein: Sie wünschen ihren nahestehenden Menschen, dass sie alles im Leben erreichen, was sie sich erträumen. Insbesondere Eltern fügen den Aspekt der Sicherheit hinzu und fühlen sich berufen, ihre Kinder auf alle Etappen des Lebens und auf die Gesellschaft, in der wir leben, vorzubereiten. Ein Motiv, das liebevoller kaum sein könnte – und doch so manches Mal eine unvorhergesehene, ganz andere Wirkung hat.
So auch bei Jana, deren Namen ich hier natürlich verändert habe.
Jana kommt aus einem Elternhaus, in dem schon früh wichtig war, dass ihr Verhalten und ihre Ergebnisse – ob beim Basteln, Anziehen oder Aufräumen – tadellos sind. Sie lernte, dass sie umso mehr Wertschätzung und Freude bei ihren Eltern erlebte, je besser sie das ihr Beigebrachte anwandte und je detaillierter ihr eigener Fokus auf ihre Ergebnisse war. Gelang ihr das nicht, fühlte sie eine abgekühlte Verbindung zu ihnen, weil sie etwas falsch oder nicht so gemacht hatte, wie ihre Eltern es sich gewünscht hatten.
Wir alle wissen, was später in der Schule hinzukam: Benotung, der Vergleich mit anderen und die teils sehr subjektive Bewertung der Lehrerinnen und Lehrer.
Während Jana diese Jahre als keine unglücklichen bezeichnet, erkennt sie in unserer Arbeit dennoch, dass sie sehr prägend waren und sie immer mehr in einem bestätigten: Es ist maßgeblich wichtig, was die ihr jeweils überstellte Person von ihren Ergebnissen hält. So wechselten sich weiter die beiden Situationen ab: Erfolgreiche und mit viel Anstrengung erledigte Arbeiten wurden freudig belohnt, während mittelmäßige Ergebnisse zu Missmut oder Neutralität führten.
Besonders in unserer Betrachtung ihrer beruflichen Ausbildungszeit und ihres Studiums wurde Jana immer bewusster, wie intuitiv perfekt sie die verschiedenen Bereiche ihres Lebens aufgebaut hatte.
Sie erkannte, wie routiniert-perfektionistisch sie im Aussuchen ihrer Kleidung geworden war, ihre tadellose Wohnung hätte jederzeit spontan von Schöner Wohnen fotografiert werden können und für ihre Urlaube mit Freunden gab sie allen Beteiligten einen gut ausgeklügelten Wochenplan, in dem jeder beachtet wurde und niemand zu kurz kam. Auch, dass sie sich auf den sozialen Medien sogar selbst mit ihren Posts übertraf, kam ihr plötzlich suspekt vor. Arbeit in Perfektion? Für Jana kaum noch eine Herausforderung. Wäre da nicht die ständige Unruhe in ihr, nicht gut genug zu sein.
Denn so gut ausgebildet sie im detaillierten Arbeiten war, so unsicher wurde sie auch, wenn sie beispielsweise in ihrem Berufsleben ein fertiggestelltes Dokument an ihre Vorgesetzten geben sollte. Denn ihr immer wiederkehrendes Korrigieren, Überarbeiten, Überlegen und wieder Korrigieren zog sich über verschiedene Projekte – sodass keines davon abgeschlossen werden konnte. Eine kleine Änderung noch hier, ein weiteres Detail da. Ihre Vorgesetzten begannen, sich Sorgen zu machen und sich zu ärgern. Glücklicherweise sprachen sie ihre Beobachtung offen an und so fand Jana den Weg zu mir.
So war aus dem ursprünglichen Wunsch der Eltern, ihre Tochter gut auf „die Welt da draußen“ vorzubereiten, in Kombination mit der Schule und der allgemeinen Leistungsgesellschaft, eine Art Sucht entstanden: die Sucht nach Anerkennung für überdurchschnittlich gute Arbeit, gepaart mit einer immer größer werdenden Angst davor, mit ihrer Leistung zu enttäuschen.
Dass Jana dabei die Legitimierung der Bewertung völlig an andere, außenstehende Personen abgegeben hatte, wurde ihr erst während unserer Gespräche wirklich bewusst. Schon lange war nicht mehr sie diejenige, die entschied, was gut war und was nicht, sondern die jeweils in der Bewertungsposition steckende Person. Sie wusste selbst nicht so recht, ob das je anders gewesen war, was letztlich irrelevant ist – denn so oder so war klar: Meine Aufgabe war es, mit Jana ihren Selbstwert zu erkennen und dann sich selbst die Position der Bewertung zuzuschreiben.
Oft kommt es in meiner Arbeit zu dem Punkt, dass wir an den Kern gehen; an das „Ich“ und die Selbstliebe. Auch hierfür gibt es keine Schubladenlösung. Stattdessen kommen wir immer wieder aus anderen Richtungen zu diesem Kern, erkennen und stärken uns und wachsen schließlich an dem, was uns noch Wochen vorher um den Schlaf gebracht hat.
Letzten Endes kommt es immer wieder darauf an, ob und wie wir uns erlauben, zufrieden mit uns selbst zu sein, wie stolz wir auf unsere Entscheidungen und Bemühungen sind und wie rücksichtsvoll wir mit uns selbst umgehen, wenn uns Fehler passieren.
Jana hat in der Zeit unserer Arbeit Erkenntnisse über sich gewonnen, die sie als Schlüssel nutzen konnte, ihr Verhalten und ihren Drang, sich nach außen hin zu beweisen, zu ändern. Heute geht sie lockerer und entspannter mit sich selbst und ihren alltäglichen Herausforderungen um.